Was nach einer ansteckenden Krankheit klingt, ist das organisationale und kulturelle Leitmodell, an dem keine Organisation mehr vorbeikommt.
Unternehmen müssen das Tages- und Kerngeschäft meistern und gleichzeitig die Zukunft gestalten. Es geht um das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel, Effizienz und Impact, Tradition und Innovation.
Ambidextrie beschreibt Lösungsansätze, um mit dieser Dualität umzugehen. Wem der Begriff Ambidextrie zu sperrig ist: Die deutschsprachige Bezeichnung „Beidhändigkeit“ klingt etwas griffiger.
Prinzipiell wird zwischen zwei Modi unterschieden: Im sogenannten Exploit-Modus wird das Stammgeschäft optimiert, um die Cash-Cow-Phase auszunutzen. An der Tagesordnung stehen Effizienzsteigerung, Kostensenkung und inkrementelle Optimierung. Das ist die Welt des Frederick Taylors: Spezialisierung, Routine, Standardisierung, Pyramiden-Hierarchie.
Während der Exploit-Modus auf der Vergangenheit aufbaut und die Gegenwart aussteuert, dreht sich im Explore-Modus alles um die Zukunft: zukünftige Kundenbedürfnisse, zukünftige Produkte, zukünftige Technologien und zukünftige Geschäftsmodelle. Ideation und Incubation, also die Entwicklung und erste Verprobung neuer Ideen, stehen hier im Fokus. Was in manchen Ohren nach kreativer Selbstverwirklichung klingen mag, ist pure Existenzsicherung. Wer nicht von Disruption überrascht werden will, wird besser selbst aktiv.
Wir erkennen also: Beide Modi sind gleich wichtig. Der eine sorgt für die heutigen Einnahmen und Quartalszahlen, der andere soll sicherstellen, dass es auch ein „Morgen“ gibt. Flapsig könnte man sagen, Exploit bezahlt unsere Gehälter, Explore unsere Rente.
Was sich so leicht aufschreibt, erweist sich in der Praxis als echter Spagat. Beide Modi basieren auf völlig gegensätzlichen Arbeitsweisen und Arbeitskulturen. Sind im Exploit-Modus 0-Fehler, Routine und Verlässlichkeit gefragt, benötigt der Explore-Modus Risikofreude, Fehlerakzeptanz und Agilität. Das klingt wie die Ambition „Weltmeister im Gewichtheben“ und zur selben Zeit „Olympiasieger in rhythmischer Sportgymnastik“.
Dieses Spannungsfeld unter dem „Dach“ einer Firma führt schnell zur Zerreißprobe.
Dabei sind Gegenpole und Widersprüche ganz natürlich, uralt und omnipräsent. Die Natur ist ohne Gegensätze kaum vorstellbar. Nichts kann hell sein, wenn es keine Dunkelheit gibt. Auch im Multi-Tasking des Alltags meistern wir gegensätzliche Aufgabenstellungen und zeigen uns erstaunlich flexibel und anpassungsfähig. Nur in unseren Organisationen haben wir es uns über Jahrzehnte abtrainiert: Im Geiste der tayloristischen Effizienzmaxime wurde jegliche Uneindeutigkeit, Varianz, Diversität und Widersprüchlichkeit ausgemerzt. Es ging stets um die Perfektion der Gleichschaltung und Standardisierung.
Seitdem Digitalisierung, Disruption und New Work unsere Businesswelt durchdringen, ist diese Gleichschaltung nicht mehr zielführend. Weiter so wie bisher geht nicht mehr. Parallel zur effizienten Beherrschung des Kerngeschäfts müssen Unternehmen kreativer, anpassungsfähiger und schneller werden.
Die Konkurrenz aus dem Silicon Valley, China und der israelischen Startup-Szene setzt unsere hiesigen Unternehmen zunehmend unter Druck. Die Marktkapitalisierung – quasi Ausdruck der Zukunftswette der Investoren - zeigt ein eindeutiges Bild: Inzwischen sind alle (!) 40 DAX-Konzerne zusammen weniger Wert als die eine Firme Apple.
2007 waren noch sieben deutsche Konzerne in den Top 100 der wertvollsten Unternehmen der Welt. Und 2022? Kein einziges mehr. Das Manager Magazin kommentierte am 03. Juli: „…zeigt den dramatischen Bedeutungsverlust deutscher Unternehmen.“
Botschaften wie diese sollten nicht zur Resignation verleiten. Im Gegenteil: Wir sollten das als Ansporn nehmen.
Die Implementierung wirksamer Beidhändigkeit ist kein Selbstläufer; es gibt einige Fallstricke und Must-Have-Prinzipien. In Deutschland fehlen uns zudem überzeugende Best-Practise-Beispiele, an denen wir uns orientieren können. Diese sind dann eher in den USA zu finden, wie beispielsweise die Emerging Business Opportunities (EBO) von IBM:
Ende des 20. Jahrhunderts stand IBM unter finanziellem Druck und versäumte es wiederholt, aus neuen Technologien Kapital zu schlagen. Interne Untersuchungen ergaben, dass der IT-Riese zu träge geworden war und man initiierte daraufhin im Jahre 2000 die sogenannten EBOs, einzelne Explore-Units, die neue Geschäftsideen auf den Weg bringen. Bereits in den ersten fünf Jahren nach ihrer Einführung konnte die EBO-Initiative den Umsatz von IBM um mehr als 15 Milliarden Dollar steigern. Bis heute gilt das Modell als Erfolgs-Referenz für wirksame Beidhändigkeit. Um Teams bei der Implementierung von Beidhändigkeit zu unterstützen, habe ich den AMBIDEXTRIE-CANVAS© entwickelt.
Unschwer zu erkennen, ist dieser vom Business-Model-Canvas inspiriert. Der Canvas steckt die Betrachtungsfelder und den Rahmen ab, die konkrete Ausgestaltung obliegt den jeweiligen Teams. Der Canvas fungiert dabei als roter Faden und Checkliste, um an den wesentlichen Stellschrauben vorbeizukommen. Für die Bearbeitung des Canvas empfiehlt sich ein interaktives, moderiertes Workshop-Format.
Eine Ausprägung der Beidhändigkeit ist der situative Wechsel zwischen den beiden Modi. Googles 20/80-Regel, bei der Mitarbeitende 20% ihrer Arbeitszeit für Ideenfindung verwenden durften, ist das vielleicht prominenteste Beispiel dieser sogenannten kontextuellen Ambidextrie. Inzwischen hat Google diese Regel wieder abgeschafft, aus gutem Grund: Langfristig ist das situative Hin- und Herschalten zwischen den beiden Arbeitsweisen & Mindsets zu anstrengend. Es erinnert ein wenig an die „eierlegende Wollmilchsau“, wobei alle Mitarbeitende und Führungskräfte alles gleich gut können müssen. Stellen wir uns folgenden Tagesablauf vor: Am Vormittag Routine, das Feilschen um Cent-Beträge, striktes Einhalten der Regeln, um dann nach der Mittagspause radikal Bestehendes infrage stellen und mit Risikofreude im Kreativraum zu träumen? Als One-Off mag das funktionieren, aber auf Dauer aber nicht.
Erfolgversprechender ist die eindeutige Zuordnung: Die eine Abteilung ist Exploit, das andere Team ist Explore. Bei der Ausgestaltung der unterschiedlichen Units sind insbesondere drei Aspekte entscheidend:
Die Explore-Units sollten ausreichend vom Stammgeschäft separiert werden, damit die Teams die notwendige Eigenständigkeit entwickeln können, wie z.B. agile Arbeitsweisen, Risikofreude, Fehlertoleranz. Oft werden Explore-Units geografisch separiert, um diese Unabhängigkeit zu stärken. Entscheidend ist die konsequente Ausprägung der eigenen Arbeitsweisen, z.B. agilen Methoden. In der Praxis sehe ich noch zu oft, wie alte Denkweisen und Arbeitsformen eine konsequente Eigenständigkeit der Explore-Units verhindern. Führungskräfte und Mitarbeitende können sich nur schwer von den jahrzehntelang einstudierten Mechanismen und Mindsets befreien. Die Explore-Units haben dann zwar einen Product Owner und Scrum Master, arbeiten aber nach wie vor nach den traditionellen Prinzipien (wie Wasserfall, Micromanagement, Queraufträge während Sprints etc.).
Neben der Separierung und Eigenständigkeit müssen die Explore-Units an das Kernbusiness angebunden werden, um deren Ressourcen und Synergieeffekte zu nutzen. Nur so bringt die Innovation die nötigen „PS auf die Straße“. Die Explore-Einheit wird in den meisten Fällen nur die für die Produktentstehung unmittelbar erforderlichen Kerneigenleistungen abbilden. Dazu zählen zum Beispiel Ingenieure, Designer und Programmierer. Querschnittsfunktionen, die nicht in der täglichen Wertschöpfung anfallen, können dann vom Kernunternehmen gestellt werden. So wird das Neugeschäft nicht mit zusätzlichen Aufwänden belastet. Expertise, Kundenzugang und Finanzkraft des „Mutterschiffs“ sind entscheidende Hebel, die den Explore-Units einen Vorteil gegenüber Startups geben können.
Letztendlich geht es also um die fein austarierte Balance zwischen Separation und Verzahnung. Dieses Setup wird auch als eingebettete Unternehmerteams bezeichnet.
"We must build bridges to the future without burning our bridges from the past."
- Aus dem Buch: Lead and Disrupt von Tushman und O'Reilly
Mitarbeitende wie Führungskräfte müssen verstehen, dass die unterschiedlichen Arbeitsweisen gewollt und notwendig sind. Es darf keine Missgunst oder Skepsis aufkommen. Es ist Führungsaufgabe, das gegenseitige Verständnis zu schaffen. Ambidextrie muss von allen verstanden werden. Es geht um das Bewusstsein, dass alle für die gleiche Sache arbeiten und für den Unternehmenserfolg einzahlen. Der viel beschworene Purpose, gemeinsame Werte und Visionen helfen, unterschiedliche Units zu vereinen. Bei dem „Wie“ (Arbeitsweisen) darf und soll es Unterschiede geben, aber nicht bei dem Wofür (Purpose).
Das Konzept der organisationalen Ambidextrie ist nicht ganz neu. Bereits 1976 wurde der Begriff von Robert Duncan eingeführt. Viele Unternehmen haben die Notwendigkeit der Beidhändigkeit erkannt und sich längst auf den Weg gemacht. Wie das sehr erfolgreich funktioniert, zeigt ein Platzhirsch der großen New-Techs: Amazon. Der Internetriese glänzt durch eine perfekt geölte Exploit-Maschinerie. Jeder, der dort schonmal etwas bestellt hat, weiß um die Verlässlichkeit und Effizienz. Gleichzeitig gilt Amazon als Innovations-Champion. 1994 als Online Buchhändler gestartet, gilt das Unternehmen heute als einer der wenigen Technologieführer in Künstlicher Intelligenz, Cloud-Computing und Roboter-Fahrzeugen. Immer wieder gelingt es dem Konzern, sich neu zu erfinden, Diversifikation in neue Felder anzugehen und disruptive Potenziale zu heben. Jeff Bezos und sein Führungsteam leben Beidhändigkeit. Dieses prominente Beispiel verdeutlicht: Beidhändigkeit ist weder ein Nischenthema, noch eine weitere optionale Managementmethode, sondern ein erprobtes und alternativloses Erfolgsmodell.
Wir müssen verstehen, dass Spannungsfelder und Gegenpole weder ein Versagen des Managements, noch ein zu bekämpfendes Risiko darstellen. Im Gegenteil:
Beidhändigkeit ist unsere einzige Chance, mit den neuen Tech-Playern und Startups mitzuhalten - mehr noch, diese zu überholen. Höchste Zeit, Beidhändigkeit zu (re)aktivieren.
Christian Schwedler ist Experte für Ambidextrie und hält Impulsvorträge auf Events wie dem Handelsblatt Change Congress, bei Corporates & Mittelstand, wie bei der Bundesagentur für Arbeit. Parallel ist er als Stratege bei der BMW Group tätig. Seit dem 22.2.22 ist sein Sachbuch „Speed-Dating mit der Arbeit von morgen“ im Handel. Mehr Infos: www.christianschwedler.com